Individuelle Medizin oder Behandlung nach Statistik?

Ein Kommentar aus der komplementäronkologischen Praxis

In der täglichen Beratung von Menschen mit Krebs werden immer wieder die gleichen Fragen gestellt: Was soll ich tun? Ist die empfohlene Behandlung gut für mich? Was kann ich sonst noch für mich tun? Seit jeher ist es die gemeinsame Aufgabe von Arzt und Patient, für den Einzelnen die beste Behandlung zu finden. Alle ärztlichen Empfehlungen beruhen dabei auf einer Mischung aus Buch- und Erfahrungswissen. Oft kommt noch ein ordentliches Maß an ärztlicher Intuition hinzu.
Besonders in der Onkologie haben die Ärzte eine große Verantwortung für die Auswahl einer möglicherweise lebensrettenden Therapie. Leider gibt es gerade in dieser medizinischen Disziplin nur sehr wenige Medikamente, die nahezu immer zuverlässig helfen. So ist kaum ein Heilmittel derart wirksam, dass ein einzelner Arzt aus seiner Erfahrung heraus allein sehen könnte, dass es derart zuverlässig wirkt. Eine solche, immer reproduzierbare Wirkung bräuchte keine weitere Untersuchung. Es ergibt etwa keinen Sinn die schlaffördernde Wirkung von Opium gegen Placebo zu testen. Die Wirkung ist 100 % vorhersagbar und damit evident.
Ganz anders verhält es sich allerdings, wenn man zwei verschiedene Krebstherapien für Situationen betrachtet, in denen die Patienten aller Voraussicht nach noch mehrere Jahre leben werden. Welche Therapie erhöht mit welcher Wahrscheinlichkeit die Überlebensrate? Hier entfalten die großen Studien ihren größten Nutzen. Sie erbringen Wirknachweise für Therapien, die der Behandler nicht alleine als wirksam oder unwirksam erkennen kann. So geben die Ergebnisse dieser Studien uns Ärzten eine wertvolle Orientierung.
Im Bereich der Onkologie hat das zu wissenschaftlich akkuraten und überaus gut fundierten Therapieempfehlungen geführt. Diese sind für die einzelnen Diagnosen mittlerweile standardisiert und begründet. Eigentlich braucht es dann für die Auswahl der Therapien auch keinen Arzt mehr. Entscheidungen über Therapieempfehlungen werden von Tumorkonferenzen getroffen. Diese Art der Medizin hat zahlreiche Vorteile. Der Arzt kann sich weitgehend auf objektive Empfehlungen stützen, sowohl Arzt als auch Patient tragen keine Verantwortung für ihre individuellen Entscheidungen. Und ebenfalls wichtig: Offensichtlich unwirksame Behandlungen werden erkannt und vermieden.

Der Preis der Evidenz

Doch leider ist zu beobachten, dass das Pendel auch in die andere Richtung ausschlägt: Große Teile der Ärzteschaft haben damit begonnen, Therapieempfehlungen nur noch auf Studienergebnisse zu stützen und das Individuum völlig außer Acht zu lassen. Dieses Vorgehen hat – wie beschrieben – ja auch einige Vorteile, nebenbei ist es bequem und entlastet die Klinik und den einzelnen Arzt maximal. Ein solches Verständnis von evidenzbasierter Medizin ist jedoch bedenklich.
Die größte Schwäche der evidenzbasierten Medizin, wie sie aktuell verstanden wird, besteht in ihrem Preis: Die erforderlichen Studien sind schlicht sehr teuer. Niemals wird die Forschung jede therapeutische Option gründlich untersuchen können. Zudem werden die teuren Studien fast nur in Bereichen durchgeführt, in denen auch teure Medikamente verkauft werden können. Der finanzielle Einsatz muss sich am Ende halt auszahlen. Wirksame, aber nicht erforschte Therapien bleiben oft unberücksichtigt. Schlimmstenfalls werden bewährte Methoden gar als unwirksam eingeordnet. Das passiert immer wieder, wenn die Abwesenheit positiver Forschungsergebnisse mit der Abwesenheit positiver Effekte verwechselt wird.
Die Bedeutsamkeit persönlicher Merkmale
Es ist zwar nachvollziehbar, irritiert aber dennoch, dass große Studien die persönlichen Eigenschaften der Teilnehmer als Störfaktoren betrachten. Die Studienteilnehmer werden in der Statistik zu Durchschnittsgrößen heruntergerechnet. Die Studienmedizin geht dabei stets von bestimmten Grundannahmen aus:

  1. Alle Menschen sind innerlich gleich beschaffen und unterscheiden sich in etwa der gleichen Art wie unterschiedliche Exemplare eines Industrieproduktes.
  2. Krankheiten sind körperinterne Vorgänge, die sich unabhängig von der Persönlichkeit des kranken Menschen immer ähnlich entwickeln.
  3. Es ist erstrebenswert, allen Menschen diejenige Therapie zu geben, die in Studien statistisch am besten gewirkt hat.
  4. Individuelle Wechselwirkungen zwischen Arzt und Patient sind unerwünschte Störfaktoren.

Vielen Patienten und Ärzten wird bei dieser Vorstellung unwohl. Man bekommt den Eindruck, der einzelne Mensch könnte mit seiner Eigenart und seinen Bedürfnissen zu wenig berücksichtigt werden. Ärzte für Naturheilverfahren und Komplementäronkologie wissen, dass eine gute medizinische Beratung zwischen Studienerkenntnissen (als dem wissenschaftlichen Aspekt der Therapie) und persönlichen Bedürfnissen des Patienten (als dem individuellen Aspekt der Therapie) vermittelt. Denn die Merkmale der Persönlichkeit, der persönlichen Ethik, der familiären Situation, können für die Wahl der richtigen Therapie wichtig sein. Und bestimmte Behandlungsoptionen können zwar statistisch sinnvoll erscheinen, aber vor dem Hintergrund persönlicher Merkmale ungeeignet sein.
Diese persönlichen Merkmale sind sehr wichtig – und sie betreffen keineswegs nur äußerliche Faktoren. Besonders interessant wäre etwa die Kenntnis der genetisch individuell festgelegten Biochemie des Patienten. Manche Menschen können Medikamente viel schneller abbauen als andere, während jemand mit einem langsamen Leberstoffwechsel vielleicht eine Überdosis durch eine normal dosierte Menge eines an sich verträglichen Medikamentes erhält. Statistisch gute Therapieoptionen können sich bei schlechter individueller Verträglichkeit sehr nachteilig auswirken. Manche Therapien wiederum erfordern das Ertragen von Nebenwirkungen über einen langen Zeitraum, um insgesamt bessere Heilungschancen zu erreichen. Der Tausch einer eingeschränkten Lebensqualität in der Gegenwart gegen eine vielleicht bessere in der Zukunft wird von Menschen ganz unterschiedlich beurteilt.

Ein Blick in die Vergangenheit

Wenn man nach einer Synthese der besten Vorgehensweisen strebt, ist es oft hilfreich, in die Geschichte zu schauen. Wenn wir also wissen wollen, wo der Fortschritt liegt, müssen wir uns fragen: Wie haben es die Ärzte in früheren Zeiten gemacht? Den erfahrenen Ärzten fiel schon immer auf, dass es bei aller Unterschiedlichkeit der
Menschen auch Ähnlichkeiten gibt. Mit viel Erfahrung glaubt man, Muster erkennen zu können. Daher haben auch Ärzte in vergangenen Jahrhunderten niemals vollkommen individuell gearbeitet. Sie versuchten Therapien an einen bestimmten Typus des Menschen anzupassen. So wurden die Patienten stets in Gruppen eingeteilt: Choleriker, Sanguiniker, Pykniker, Astheniker, Leptosome, Athleten usw. In allen alten Medizinsystemen wurde der Mensch in seiner Eigenart zusätzlich auch noch im Rahmen des Makrokosmos betrachtet. So suchten die Ärzte die passende Medizin auch nach der Astrologie des einzelnen Patienten aus. Kurzum: Medizin als wissenschaftliche (bzw. vorwissenschaftliche) Disziplin war schon immer kompliziert. Wohl aber wäre es den alten Ärzten vollkommen widersinnig erschienen, alle Typen von Menschen mit der gleichen Medizin zu behandeln, nur weil sie eine ähnliche Erkrankung haben. Ein wohlbeleibter Pykniker mit einem Tumor im Darm hätte eine andere Behandlung bekommen als ein dünner Astheniker. Medicus curat, natura sanat: Das berühmte Hippokrates-Zitat ermahnt uns zur Bescheidenheit und zum Respekt vor der Lebenskraft des Menschen.

Resümee

Vieles in der Medizin lässt sich verbessern, wenn man die Therapien auch danach auswählt, die individuellen Selbstheilungskräfte des Patienten zu stärken. Griffiger ausgedrückt: Es gilt, die Vitalität des Menschen zu fördern. Dies ist eine wesentliche Domäne der komplementären – der ergänzenden – Onkologie. Sowohl die klassischen als auch die modernen Naturheilverfahren verfügen über einen großen Schatz an Vitalität-fördernden Strategien. Dies können medizinische Maßnahmen, aber auch Diätetik und Optimierung von Verhaltensweisen des Patienten sein. Während sich größere Einrichtungen wie etwa Krankenhäuser allein schon aus juristischen Gründen streng nach Studienlage und Leitlinien richten müssen, können kleinere Kliniken und einzelne Ärzte auch individuell beraten – ohne indes Studienlage und Leitlinien zu ignorieren. Um ein informiertes Urteil abgeben zu können, ist die Kenntnis der aktuellen Studienlage unabdingbar. Es obliegt dann aber dem Therapeuten und dem Patienten von der Therapie nach Leitlinie abzuweichen oder diese durch individuell sinnvoll scheinende Maßnahmen zu ergänzen.
Aber Vorsicht! Eine seriöse Komplementäronkologie setzt sehr gründliche Kenntnisse voraus – und lehnt keinesfalls die Methoden der evidenzbasierten Medizin ab. Eine pauschale Ablehnung der Schulmedizin in der Onkologie ist immer unseriös und oft auch gefährlich.